
Der Meisterkoch Pao Ding und der Ochse
(aus dem „Zhuangzi“, Kapitel „Der Fürst Wen Hui“) – frei nacherzählt)
Der Fürst Wen Hui beobachtete eines Tages seinen Hofkoch Pao Ding bei der Arbeit. Doch „arbeiten“ war fast das falsche Wort. Was er sah, war reine Kunst.
Pao Ding zerlegte einen großen Ochsen – aber nicht mit grober Kraft, nicht mit Gewalt, nicht einmal mit sichtbarer Anstrengung. Sein Messer glitt durch das Fleisch, als wüsste es selbst, wohin es müsse. Es gab kein Hämmern, kein Reißen, kein Schaben. Nur ein sanftes Schschsch, wie Wind im hohen Gras.
Der Fürst stand da mit offenem Mund.
„Dein Können ist unglaublich“, sagte er. „Wie hast du diese Meisterschaft erlangt?“
Der Koch lächelte und legte sein Messer beiseite.
„Eure Hoheit“, begann er, „als ich vor vielen Jahren anfing, sah ich beim Zerlegen eines Tieres nur: Fleisch. Alles war ein einziger Block. Ich musste kämpfen, mich anstrengen, denken.“
Er wischte sich die Hände ab.
„Nach drei Jahren intensiver Praxis sah ich die Dinge anders. Ich begann die Muster zu erkennen – die Zwischenräume, die natürlichen Fugen, die Wege, die das Messer von selbst gehen will.“
Der Koch zeigte auf seinen Ochsen.
„Heute sehe ich kein Fleisch mehr. Ich sehe den gesamten Aufbau, die Struktur, das Zusammenspiel. Ich behandle nicht ein Stück, ich betrachte das Ganze.“
Der Fürst trat näher.
„Und dein Messer?“
Pao Ding hob es hoch.
„Mein Messer ist 19 Jahre alt. Ich musste es noch nie schärfen. Wisst Ihr, warum? Weil ich mich nicht mit Gewalt durch die Dinge hacke. Ich gehe mit ihnen. Ich folge ihren natürlichen Linien. Ich arbeite nicht gegen das Leben, sondern mit ihm.“
Dann fügte er hinzu:
„Wer nur auf das Einzelne starrt, muss kämpfen. Wer das Ganze erkennt, gleitet.“
Der Fürst atmete tief ein.
„Ich habe mehr Weisheit aus deinem Zerlegen eines Ochsen gelernt als aus vielen Büchern“, sagte er. „Von heute an will auch ich dem Ganzen folgen – und nicht mehr gegen die natürlichen Linien des Lebens hacken.“
Fazit:
So wie Meister Pao Ding nicht an einem einzigen Stück Fleisch herumdockt, sondern den ganzen Ochsen sieht, arbeite auch ich nicht an einzelnen Symptomen herum. Wenn du wirklich etwas verändern willst, musst du das ganze Bild anschauen – deine Muster, deine Geschichte, deine Beziehungen, deine Prägungen. Genau dort liegt die Leichtigkeit. Nicht im Herumhacken, sondern im Verstehen der natürlichen Linien deines Lebens.
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