
Wofür eine Kerze im Fenster?
Es war einmal ein kleiner Ort am Rand eines großen Waldes. Im Winter lag er stets unter einer sanften Schneedecke, und wenn der Wind durch die Dächer strich, hörte es sich an, als würde jemand leise pfeifen. Die Menschen dort kannten sich, halfen sich, stritten sich auch mal – wie überall. Doch es gab eine alte Tradition, die alle verband: Am Abend vor Weihnachten stellte jeder eine Kerze ins Fenster.
Nicht, weil sie besonders religiös waren. Sondern weil man sich erzählte, dass diese Kerze all jene heimführt, die sich auf ihrem Weg verloren haben – äußerlich oder innerlich.
In diesem Jahr war Anna die Einzige, die zweifelte, ob sie die Kerze überhaupt anzünden sollte. Ihr Jahr war schwer gewesen. Eine Freundschaft, die zerbrach. Ein Traum, den sie aufgegeben hatte. Und dieses leise Gefühl, dass sie sich selbst irgendwo zwischen Erwartungen und Verpflichtungen verloren hatte.
„Wofür soll ich die Kerze ins Fenster stellen?“, murmelte sie. „Wen soll sie denn heimführen?“
Sie schob den Gedanken weg, setzte sich an den Küchentisch und wollte gerade den Abend ignorieren, als es klopfte. Draußen stand ihr Nachbar Paul mit seiner kleinen Tochter. Das Mädchen hielt eine Kerze in der Hand.
„Unsere ist ausgegangen. Hast du vielleicht Feuer?“, fragte Paul.
Anna musste lächeln. „Natürlich.“
Sie zündete die Kerze für das Mädchen an. Als sie das sanfte Leuchten sah, spürte sie etwas in sich: nicht groß, nicht dramatisch – eher wie ein warmer Atemzug an einem kalten Fenster.
Das Mädchen strahlte. „Papa sagt, die Kerzen zeigen den Weg nach Hause.“
„Das tun sie“, sagte Anna. „Manchmal sogar für Menschen, die schon die ganze Zeit zuhause sind, aber es vergessen haben.“
Als die beiden gegangen waren, holte Anna ihre eigene Kerze hervor. Sie stellte sie ins Fenster, zündete sie an – und setzte sich davor. Der kleine Lichtschein tanzte im Glas und warf goldene Muster an die Wand.
In diesem Moment wurde ihr klar, dass die Kerze nicht für andere brennen musste.
Sie durfte ganz schlicht für sie selbst brennen.
Für all die verlorenen Anteile in ihr, die darauf warteten, wieder gesehen zu werden.
Der Wind draußen wurde leiser. Und tief in ihr, fast unmerklich, begann etwas heimzukehren.
Fazit:
Manchmal reicht ein einziges Licht, um uns daran zu erinnern, dass wir längst auf dem richtigen Weg sind – selbst dann, wenn wir uns zwischendurch verlieren.
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